DER URSPRUNG DER WELT IV, 2020, Uhr LUXPAN, Textilien


Etruskische Gorgo-Medusa um 600 v.u.Z., Museum Villa Juli Rom, Foto: H. Zens



Gorgoneion, 2. Hälfte 6. Jh.- Anfang 5. Jh. v.u.Z., Ton, Sigmund Freud-Museum, Wien


Baubo (sheela-na-gig), 12.Jh., Relief an der Kirche in Kilpeck, Herefordshire, England


Marcel Duchamp – Mona Lisa LHOOQ

                 
Brigitte Borchhardt-Birbaumer
                                 
Geburt der Zeit oder Ambivalenz der Lachfalten-Vulva

Zu Theres Cassinis Der Ursprung der Welt IV

Durch Zweifingerspreizung öffnet sich der weiche fleischfarbene Samtvorhang und gibt den Blick auf das Ziffernblatt frei: die angenehme Suche bringt eine Spaltung von haptischer und optischer Erfahrung mit sich. Der verdoppelte Auftritt der Sinne ist befremdend und komisch. Die Uhr entblößt die Zeit nicht selbst, die Falten bilden erst durch Teilung die Form einer Vulva oder eines Mundes, umgeben von faltiger Haut, vergleichbar dem alten Kultbild der Gorgo-Medusa in archaisch-etruskischer Kunst. Die Ähnlichkeit mit der personifizierten Vulva, die als mythisches Wesen von den Griechen im Umfeld der Orphiker und der Eleusinischen Mysterienkulte „Baubo“, sowie nach den Homerischen Hymnen „Iambe“ genannt wurde, lässt eine Menge Assoziationen zu, die der Fruchtbarkeit und Sexualität auch das Gegenbild dämonischer Abschreckung anschließen(1). Dieses Bild der alten Gorgo mit Falten, die sich aus Wangen und Kinn um den Mund bilden, oszilliert zwischen Lachen und Drohen, vor allem die herausragende Zunge und Zähne verstärkt die Abwehrgeste, damals apotropäisch eingesetzt gegen Angreifer von Tempeln. Was zuerst der Akroter wird im Mittelalter zur grotesken Kathedralplastik, der Drolerie.

Sigmund Freud besaß unter seinen „dreckigen Göttern“(2)  zwei kleine fast kreisrunde etruskische Terrakotten, die den Mund fletschende Gorgonenhäupter darstellen. Als von der Schaulust inspirierter Denker ließ er sich von diesen zu „Vagina dendata“ und „Kastrationsangst“ sowie 1905 zu „Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten“ anregen. Denn in solchen Darstellungen gesellt sich die Affinität des Lachens zum Gefühl der Bedrohung entronnen zu sein. Nach Vorstellung der Freud verehrenden Surrealisten wäre eine Uhr als Vulva ein „Phantomobjekt“(3). Das waren aber auch die bei Mysterienkulten eingesetzten Objekt-Paare in Form einer Vulva und eines Phallos, Baubo hat einen Baubon, Iambe einen Iambos,  die vergrößert im Vergleich zu menschlichen Sexualorganen, rituell eingesetzt wurden.(4)

Im Gegensatz zu früheren Objekten aus der Serie „Der Ursprung der Welt“ von Cassini sind diesmal keine Haare von Pelzen oder Federn involviert, die rasierte Vulva hat aber Falten. Wenn der gefaltete Mund zu einem mit Schnurrbart gewandelt wäre, käme zur Furcht vor der im Dickicht des Schamhaars versteckten Grotte die vor der ablaufenden Zeit hinzu. Denn die Geburt trägt im jahreszeitlich-zyklischen Denken den Tod schon in sich. Die Geburt der Zeit zwischen den verschobenen Samtfalten darf sich gut anfühlen, dazu ist Schauen und Tasten allein an einem zum Fetisch erhobenen Ersatzobjekt, laut Freud, auch kaum als Perversion zu bezeichnen.

Die allerweiblichste Frau in der Malerei, Leonardo da Vincis Mona Lisa, wird vom Vater der Psychoanalyse zum androgynen Sphinx-Wesen gewandelt und die Ambivalenz „Einer Kindheitserinnerung des Leonardo da Vinci“ neun Jahre später noch einmal unterstrichen durch Schnurr- und Spitzbart sowie die Beischrift „L.H.O.O.Q“ Marcel Duchamps. 1919 zum 400. Todestages Leonardos beschreibt dieser auch mit Rrose Sélavy als Androgyn signierende Künstler als abgekürzte Vulgärzote: „Sie hat einen heißen Hintern“. Das meint eine Frau, die das Normalmaß an sexuellem Interesse überschreitet.

Wir können die auch an Männerarmen tragbare „Damenuhr“ Cassinis also auch mit den derben Scherzen des mythischen Vulva-Zeigens oder Phallus-Entblößens vergleichen, nicht nur nach der „paranoisch-kritischen“ Methode Salvador Dalis, denn Berührungsobjekte greifen unsere Sinne doppelt an, lösen nicht nur Wissbegierde aus. Durch Letztere bildet sie die Gedankenbrücke zurück zu Freud, zur Antike, sie spricht aber auch Physis und Psyche an: wir fühlen mehr als wir denken, das lässt das Lachen über die Angstfantasie triumphieren beim tastenden Vordringen zum Ziffernblatt.

       
(1) Georges Devrereux: Baubo. Die mythische Vulva, Frankfurt 1981. Die Baubo und der Baubon waren Ritualobjekte (nachgebildet nach weiblichem und männlichem Sexualorgan), die bei den jahreszeitlichen Festen der frühen (Natur-)Religionen in die Mysterienspiele im Frühjahr im Vollzug der „Heiligen Hochzeit“ zum Einsatz kamen. Im zyklischen Denken spulen sich die Feste von Geburt-Jugendabschlussfest-Hochzeit-Tod im Kreis immer wieder ab; erst die endzeitlich-linear auf eine Erlösung angelegten Religionen haben diese Rituale als „Tempelprostitution“ verunglimpft.

(2) Sigmund Freud 1899 in einem Brief an Wilhelm Fließ, siehe: Hg. Monika Pessler und Daniela Finzi: Freud. Berggasse 19. Ursprungsort der Psychoanalyse, (Sammlungskatalog zur erweiterten Wiedereröffnung des Freud Museums Wien), Berlin 2020.

(3) Xavière Gauthier: Surrealismus und Sexualität. Inszenierung der Weiblichkeit, Berlin 1980.

(4)Marion Giebel: Das Geheimnis der Mysterien. Antike Kulte in Griechenland, Rom und Ägypten, Düsseldorf-Zürich 1990.