Juni 2024

Laura Amann, Kuratorin, Kunsthalle Wien

Dark Botanicals

... das Unkraut wuchs bis auf Kniehöhe und verwelkte dann schnell zu Kompost, der einen so starken Ammoniakgeruch verströmte, dass sie sich die Nase zuhalten musste. Der Kompost fraß sich durch alles, was sich darunter befand, zersetzte das übrige Grün und ließ die Erde darunter gelb und brach liegen…

...die zweite Stufe war Schimmel; die Fäulnis bereitete die idealen Bedingungen für Pilzsporen, die sich ausbreiteten und durch den Rest wüteten. Dann löschten sich die Pflanzen und Pilze in einer Orgie der Apoptose selbst aus, zusammen mit dem, was sie zuvor aufgefressen hatten…

...Sie war erstaunt über das spektakuläre Chaos in ihrem Haus; es blühte, wuchs und starb gleichzeitig, kannibalisierte sich selbst in programmiertem Prunk…

– Auszüge aus dem Buch Oval von Elvia Wilk
(Übersetzung der Autorin)

Eros wieder einmal Gliederlöser wirbelt mich
süßbitter, unmöglich, sich zu wehren, Kreatur, die sich heranschleicht...


– Fragment eines Gedichts von Sappho
(Übersetzung der Autorin)

Julia Kristevas Konzept des "Abjekten", das sie in ihrem Buch Powers of
Horror: An Essay on Abjection aus dem Jahr 1980 behandelt, ist aus vielen
Gründen faszinierend, vor allem aber deshalb, weil es als mächtiges Instrument
zum Verständnis der menschlichen Psychologie auf individueller Ebene
gleichermaßen eingesetzt werden kann wie zum Verständnis von Mechanismen
der Ausgrenzung und der Definition des Anderen auf gesellschaftlicher Ebene.
Es handelt sich um ein komplexes theoretisches Konstrukt, das kulturelle Tabus,
Grenzen der Identität und die menschliche Psyche erforscht. Was passiert also,
wenn wir Kunst durch die Linse des Abjekten betrachten, oder besser noch, wenn die Kunst uns zwingt, das Abjekte zu erfahren?

Für Kristeva ist das Abjekte jenes, das grundsätzlich abstoßend, störend
oder bedrohlich für unser Selbstverständnis und die soziale Ordnung ist. Es ist
nicht dasselbe wie das Objekt, das klar vom Selbst getrennt werden kann. Das
Abjekt existiert an den Rändern der Gesellschaft und widersetzt sich den
Grenzen zwischen dem Selbst und dem Anderen sowie dem Innen und dem
Außen. Es ruft starke Reaktionen des Entsetzens, des Ekels und der Angst hervor - eine Art Urreaktion, die zugleich abstößt und fasziniert. Diese Kombination aus Ekel und Faszination ist ein Schlüsselmoment. Es geht um Tabuisiertes oder Verbotenes wie Körperflüssigkeiten, Abfall, Tod und Verfall - Elemente, die traditionell aus dem Sozialen, dem Körperlichen und der Psyche verbannt werden, um Sauberkeit, Reinheit und eine Art Homöostase aufrechtzuerhalten.

Kristeva betont, dass dieser Prozess der Ablehnung für die Identitätsbildung
essenziell ist. Denn nur durch Ablehnung und Ausstoßung des Abjekten können
Individuen und Gesellschaften das eigene Selbst im Gegensatz dazu bilden. Die
ständige Bedrohung durch das Abjekt besteht also darin, dass es immer wieder
zurückkehrt und Grenzen sprengt, verwischt, aufweicht oder ausdehnt.
Eine analoge Beziehung kann auch in der Erotik gefunden werden. In ihrem
Essay This Compost: The Erotics of Rot stellt die Autorin Elvia Wilk fest, dass
erotische Liebe sowohl toxisch wie auch berauschend sein kann. Sie schreibt:
"Man wünscht sich, vereinnahmt zu werden: absorbiert, umhüllt, aufgelöst, zersetzt. Und man wünscht sich ebenso sehr, seine individuelle Gestalt zu behalten". Dieser “Überfall”, der in der erotischen Begegnung geschieht, zersetzt das Selbst, es stört seine Homöostase. Wilk fährt fort: "Das Selbst empfindet dies sowohl als schmerzhaft wie auch als angenehm [...] es ist schließlich nur aufgrund eines Überfalls möglich, dass sich das Selbst als solches
erkennen kann [...] das Selbst sieht, wo seine Grenzen gewesen sind, und wünscht sich dann, sie beizubehalten." Anne Carson beschreibt diesen Prozess als "sweetbitter" und nicht als bittersüß. Denn "zuerst berauscht die Süße der Liebe, und dann signalisiert ihre Bitterkeit die potenzielle Giftigkeit. Erst köstlich, dann abstoßend. Dann beides."

Das Abgründige und das Erotische? Seltsam verwandt? Verwandte
Seltsamkeit?

Die Werke, die uns in der Gruppenausstellung Dunkle Botanika begegnen,
werden Sie sicherlich entweder zum Nachdenken über die oben genannten
Konzepte anregen oder - wenn Sie es zulassen - die wunderbar komplexen und
widersprüchlichen Empfindungen von Ablehnung und Faszination, Rausch und
Toxizität spüren lassen.

 

 






Traditionell haben die Kunstwissenschaft und die ästhetische Theorie eine
sehr nüchterne, wenn nicht gar prüde Haltung gegenüber körperlichen
Empfindungen, insbesondere der Lust, eingenommen. Die Philosophie des 18. Jahrhunderts unterschied klar zwischen ästhetischem Genuss - als Effekt
intellektueller Erfahrung und Grundlage kritischer Werturteile - und
"fleischlichen" Empfindungen.

Das Urteil über die "Schönheit" erforderte also eine Art “desinteressierten
Lustgewinn”, das sich von jenem Lustgewinn unterscheiden sollte, das man zum Beispiel durch Essen, Trinken oder Sex empfindet. Um für ein Werk empfänglich zu sein, das den intellektuellen Genuss über die körperliche Erfahrung stellt, braucht man also Strategien der "Distanzierung", um der Betrachterin den Prozess der Werkerfahrung bewusst zu machen - warum aber gibt es eine so rigorose Trennung zwischen körperlicher Empfindung - sei es Lust oder Ekel - und intellektualisierter Kontemplation? Warum ist es so undenkbar, dass Kunst sowohl sinnlich als auch konzeptuell, erotisch und kritisch sein kann?

Körperliche Empfindungen werden in der Regel mit dem Verlust des
kritischen Denkens in Verbindung gebracht, sie werden als bloße niedere
Impulse behandelt und ihnen wird jegliche politische Handlungsmacht
abgesprochen. Aber ihre Lüsternheit und Unmittelbarkeit machen vielleicht
genau das kritische Potenzial der viszeralen Empfindung aus. Was wäre, wenn wir zulassen würden, dass körperliche Empfindungen den kritischen Verstand aufzehren? Was wäre, wenn wir ästhetische, historische und biografische Analysen durch die magische Blackbox der körperlichen Empfindung jagen würden? Empfindungen, die den Verstand zurück in den Körper rufen, somatische und erfahrungsbezogene Tiefgänge enthalten und Lesarten anbieten, die intellektuell nicht zu entschlüsseln, aber umso erhellender sind?

Theres Cassinis
Praxis könnte man als eine Besessenheit von der seltsamen
Materialität unserer Körper beschreiben. Uralte Sehnsüchte, aber auch kollektive Einsamkeit, Ängste, Zwänge und Albträume finden ihren Ausdruck in fleischlichen Formen, die in der Rebellion gegen das Unvermeidliche
kulminieren.

Ernst Limas
Arbeiten sind zwischen dem physischen und dem virtuellen Leben
angesiedelt und untersuchen, wie der Körper auf technologische
Selbsterweiterungen reagiert. Materialität und Motive evozieren sowohl das
Organische als auch das Künstliche, jedoch in einem Stadium der Aufhebung
oder des Zusammenbruchs dieser Kategorien.

Die Stillleben von Lauren Nickou offenbaren nach und nach die Bedachtsamkeit und Präzision, mit der jede Geste, jeder Strich ausgeführt wird. Jeder anfängliche Eindruck von Niedlichkeit wird schnell durch eine dunklere, verstörte oder sogar depressive Aura umgeben, die jenes stört was üblichererweise als liebenswert und harmlos gilt.

Ariadne Randalls
verträumte Umgebungen werden liebevoll mit ihrer Stimme, ihren Bewegungen und ihren Kompositionen ausgestattet. Inspiriert von Butoh
und Oper sucht die Künstlerin nach Verbindungen und Übergängen zwischen
der so genannten natürlichen und der digitalen Welt, wobei sie die Trans*-
Erfahrung und ihre Fluidität nutzt, um andere Grenzbereiche wie Tod, Geburt, Krise oder Spiritualität zu betrachten.

Letizia Werths
unaufdringliche Zeichnungen entwickeln sich fast wie ein Fotopapier in flüssiger Emulsion vor unseren Augen. Durch den sorgfältigen Auftrag von Graphitstift, dessen Linien manchmal mit Wasser verwischt werden,
schafft die Künstlerin intensive Bilder, die gleichzeitig von der Kraft des Lebens und seiner Zerbrechlichkeit erzählen.

Hamid Yaraghchi
ist fasziniert vom Grauenvollen. Die malerischen Situationen, die er schafft, sowie seine komplexe Pinselführung existieren wie in einem Zwischenzustand, ähnlich dem wenn wir uns nicht sicher sind, ob wir wach sind oder schlafen, was die Lektüre der Arbeiten für die Betrachterin gleichermaßen köstlich wie quälend macht.









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